Die HerausgeberInnen Georg Fertig (Halle), Sandro Guzzi-Heeb (Lausanne) und Elisabeth Timm (Münster) laden zu Einreichungen für einen Themenband des Jahrbuchs für Geschichte des ländlichen Raumes ein.
Genealogie als populäre Praxis und als wissenschaftliche Perspektive in der historischen und ethnologischen Forschung: Motive – Praktiken – Ressourcen
Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes/Rural History Yearbook (RHY), Publikation: 2021
Die Genealogie ist einerseits eine weit verbreitete Freizeitaktivität, die viele Menschen in Kontakt mit der Geschichte bringt. Sie war andererseits lange ein wichtiges Arbeitsinstrument der Geschichtswissenschaft und der Kultur- und Sozialanthropologie: um einen bestimmten Typus verwandtschaftlicher Systeme darzustellen, oder um Herrschaftsgeschichte prosopografisch abzubilden. Auch aktuell werden Genealogien in der empirischen Forschung und als analytische Perspektive in unterschiedlichen Disziplinen und wissenschaftlichen wie politischen Kontexten eingesetzt. Die neuere Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie die neue Geschichte der Verwandtschaft und die anthropologischen New Kinship Studies haben einen anderen und erweiterten Blick auf Genealogien entwickelt: Sie verstehen diese nicht mehr vor allem als neutrale Darstellungen bestehender Beziehungsformen, sondern fragen praxeologisch danach, wie Genealogien hervorgebracht, mobilisiert und verwendet werden. Zugleich haben die neue wissensgeschichtliche Forschung sowie Zugänge der History and Philosophy of Science auf die vielfältigen Transfers genealogischer Praktiken, Formate und Argumentationen aufmerksam gemacht, die zwischen den sich herausbildenden wissenschaftlichen Disziplinen seit dem 18. Jahrhundert, Feldern gesellschaftlicher Ordnung und Praxis sowie den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der populären Genealogie und der akademisch gelehrten Genealogie zirkulierten und zirkulieren.
Auch wenn das Thema Genealogie ländliche und städtische Milieus betrifft, steht es doch in einer besonderen Beziehung zum ländlichen Raum – allein schon, weil sich ein Großteil der genealogischen Forschungen seit Ende des 19. Jahrhundert zunächst auf die kleinen, überblickbaren Orte bezog, aber auch, weil in historischer Zeit die Masse der genealogisch untersuchbaren Bevölkerung auf dem Land lebte. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Nutzung von Genealogien in der historischen Demographie, in der Mikrogeschichte oder in der Familien- und Verwandtschaftsgeschichte viel zu neuen Interpretationen der sozialen Dynamiken in ländlichen Gesellschaften beigetragen. Wie ist der aktuelle Stand, und welche Perspektiven eröffnen sich für die Zukunft? Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen universitärer Forschung und außeruniversitärer Genealogie in diesem Bereich aus? Wie werden Genealogien und genealogische Datenbanken in wissenschaftlichen Projekten behandelt, finanziert, gehandhabt und allenfalls publiziert?
In dem geplanten Band soll das Feld der Genealogie in den folgenden drei Hinsichten diskutiert werden. Die Felder sind bewusst breit formuliert: Willkommen sind sowohl Beiträge, die historische oder gegenwärtige Fälle von Genealogien erforschen, als auch Beiträge, die genealogisches Arbeiten für einen bestimmten Bedarf anwenden oder (weiter)entwickeln.
(1) Motive für Genealogie
In der (vor allem anthropologischen) Forschung sind in Geschichte und Gegenwart eine große Vielfalt an Anlässen und Interessen, Genealogie zu betreiben, nachgewiesen worden. So dienen Genealogien dazu, einen Anfang, einen Ursprung oder ein Ziel nachzuweisen, sei es aus philosophischem, religiösem oder wissenschaftlichem Interesse. Sie können aber auch – mit jeweils sehr unterschiedlichen Zielsetzungen – Argumente für die Geltung von Ansprüchen darstellen, Ansprüche rechtlicher, ökonomischer, territorialer, politischer, sozialer, kultureller Art, der Legitimation von Herrschaft, der Distinktion und Grenzziehung, aber auch der Emanzipation, Integration und Vernetzung. Darüber hinaus wird in Form von Genealogien das Gefüge von Natur, Kultur und Gesellschaft verhandelt, auch das von Toten und Lebenden oder des Heiligen (Übernatürlichen, Göttlichen, Spirituellen) und Profanen (Irdischen, Menschlichen, Vernünftigen). Zudem wirken Genealogien auf soziale Beziehungen ein: sie stiften oder beenden sie, sei es als Reaktion auf einen wahrgenommenen Mangel oder Wandel, sei es als Ausdruck von Verbundenheit, sie erhalten einen Status quo oder dienen als Plädoyer für einen Aufbruch. All diese Motive, Genealogie zu betreiben, wurden und werden von unterschiedlichen, individuellen Beteiligten aufgebracht und verfolgt: in religiösen und dynastischen Kontexten, in der älteren oder neueren Vereinsgenealogie, vom Staat oder gegen den Staat, jeweils in populären und gelehrten, wissenschaftlichen Varianten.
Es ist zu fragen, ob ein vergleichender Blick systematische Unterschiede in diesen Motivlagen erkennbar macht, etwa zwischen älteren und jüngeren oder zwischen verschiedenen nationalen oder religiösen bzw. konfessionellen Strategien. Wir fragen zudem, welche Transfers es zwischen diesen Bezugsräumen gibt (z.B. die Kooperation der Mormonen mit staatlichen Archiven und Archiven unterschiedlicher Religionsgemeinschaften weltweit, die Umstellung von der religiös gebundenen auf die staatliche Personenstandsdokumentation seit dem 19. Jahrhundert).
(2) Praktiken der Genealogie
Ebenso vielfältig wie die Motive, Genealogie zu betreiben, sind die Praktiken, mit denen dies geschieht. Informationen werden als genealogische Daten mithilfe unterschiedlicher Techniken und Medien konzipiert, erfasst, verknüpft, dargestellt und mitgeteilt. So gibt es ephemere und transitorische Medien, etwa Erzählungen, aber auch dauerhafte wie Verschriftlichungen oder Visualisierungen, fixierte Medien wie Stammbäume und Ahnentafeln, aber auch bewegliche wie Datenbanken.
Dabei produziert sowohl die populäre als auch die wissenschaftsförmige (sei es die demographische, die soziologische, die geschichtswissenschaftliche, die naturwissenschaftliche) Genealogie je nach Motivlage fixierte oder wandelbare Verbindungen, offene oder geschlossene Netzwerke, explizite Ausschnitte oder ungewollte Auslassungen. Und schließlich sind die genealogischen Praktiken jeweils mit feldspezifischen Übereinkünften zur Gültigkeit von Daten und zu deren Veröffentlichung oder Geheimhaltung sowie den darauf bezogenen Aushandlungen verbunden.
Diese Dynamiken sind zunächst eng verbunden mit der Entstehung des Archivs seit der Formierung von Staatlichkeit in der Frühen Neuzeit und seit einiger Zeit zudem mit molekulargenetischen Technologien in Laboren. Auch mit Blick auf die Praktiken stellt sich die Frage nach systematischen Unterschieden und gemeinsamen Entwicklungen.
Insbesondere der Aufschwung der Computergenealogie innerhalb der populären Genealogie hat angesichts der Potenziale von Big Data, aber teilweise gegenläufig zu den Konjunkturen der sozial- und wirtschaftshistorischen Forschung, das Feld in den letzten Jahren vor grundlegend neue Probleme und Möglichkeiten gestellt. Ein besonderes Augenmerk verdienen jene Praktiken, die genealogische Daten aus unterschiedlichen Medien zusammenziehen, indem beispielsweise eine Kombination des geschriebenen (z.B. Familiengeschichten aus Kirchenbüchern) und des stofflichen Archivs (z.B. DNA-Tests) angestrebt wird.
(3) Genealogie als Ressource und Ressourcen der Genealogie
Wer Genealogie betreibt, nutzt und schafft je und je spezifische Wissensressourcen. Diese Wissensressourcen können in unterschiedlichem Maße wissenschaftlich-disziplinären wie auch außerwissenschaftlichen oder individuellen Logiken unterliegen. Die neuere Vorstellung, Genealogie sei Citizen Science, hat ältere Vorstellungen von Genealogie als Teil der Historischen Hilfswissenschaften abgelöst. Genealogisches Wissen ist verbunden mit Institutionen wie der Überlieferungsbildung in historischen Archiven, mit digitalisierten Personendatenbanken oder Biodatenbanken, die selbst aus früheren oder laufenden genealogischen Praktiken hervorgegangen sind bzw. entstehen. Relevant sind damit auch Techniken und Technologien wie das Abschreiben, das händische oder technische Kopieren, bildgebende Verfahren mit oder ohne Apparate, sowie das Zusammenstellen von Informationen über Medienbrüche hinweg in unterschiedliche Richtungen (beispielsweise die erzählte Krankengeschichte der Familie, die der Arzt als Vorbelastung zu einem medizinischen Faktum macht, oder die visuelle Familienähnlichkeit als Indiz für verwandtschaftliche Verbindungen). Auf neue Art sind genealogische Wissensressourcen auch für die Aufbrüche der Deep History oder der Genetic History mit ihrer Nutzung der DNA‑ und neuen aDNA-Analyseverfahren relevant. Thematisch sind hier Beiträge zur Institutionalisierung und Regulierung genealogischer Daten- und Wissensproduktion relevant, ebenso zum Transfer von genealogischen Daten- und Wissensbeständen zwischen unterschiedlichen Medienformaten, ganz generell in die historisch-demographische wie auch die allgemeinhistorische Forschung, aber auch Beispiele von älteren oder jüngeren Kooperationen von Archiven, populärer Genealogie, Wissenschaft und Recht, z.B. Verfahren der Abstammungsidentifikation in Recht, Medizin und Naturwissenschaften.
Wir laden zu Beiträgen für diesen Themenband des JGLR ein. Der Band wird 2021 erscheinen und etwa 20 Beiträge enthalten können. Beiträge sollten sich auf eines der oben genannten Felder – Motive / Praktiken / Ressourcen – beziehen, wobei diese Felder als analytische Hinsichten, nicht als substanzielle Kategorien der bearbeiteten Fälle zu verstehen sind.
Der Band zielt auf eine Zusammenschau von Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen; die Einleitung des Herausgabeteams wird das Thema in historischer und in gegenwartsbezogener Perspektive transdisziplinär aufspannen.
Bitte senden Sie uns zunächst bis 15. März 2019 ein abstract im Umfang von 500 Wörtern, sowie knappe Angaben zu Ihrer Person. Bis Juni 2019 erfolgt die Auswahl und die Aufforderung zur Einreichung von Manuskripten (Termin: 28. Februar 2020). Kriterien für die Auswahl sind: Aktualität, unveröffentlichte empirische Forschung und/oder neue, übergreifende, analytische bzw. theoretische Perspektiven; klare Situierung in einem relevanten Diskussionsstand.
Zu Umfang und Gestaltung der Manuskripte beachten Sie bitte die Hinweise des JGLR: https://www.ruralhistory.at/de/publikationen/jglr/manuskripteinreichung
Eingereicht werden können Beiträge in englischer oder deutscher Sprache. Parallel zu diesem offenen Call laden wir zudem KollegInnen, die zum Thema des Bandes einschlägig gearbeitet haben, persönlich ein.
Alle Einreichungen, diejenigen auf den CfP wie die eingeladenen Beiträge, durchlaufen neben dem editorial review der HerausgeberInnen ein peer review-Verfahren mit double-blind Standard gemäß den Regularien des JGLR.
Die Open-Access-Strategie des JGLR wird im Februar 2019 formal neu festgelegt werden. Wir sind sehr zuversichtlich, dass dieser Band gedruckt und zugleich online erscheinen wird.
Kontakt
- Georg Fertig, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, georg.fertig@uni-halle.de
- Sandro Guzzi-Heeb, Section d’histoire, Université de Lausanne, sandro.guzzi-heeb@unil.ch
- Elisabeth Timm, Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, elisabeth.timm@uni-muenster.de