Landwirtschaftsstile in NÖ (1945-1980)

Wie bäuerliche Familien mit ihren Ressourcen umgehen, zeigt diese Mikrostudie.

Förderung

Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF-P20922-G15)

Laufzeit

Jänner 2009 - Juni 2012

Projektleitung

Ernst Langthaler

Mitarbeit

Rita Garstenauer
Benjamin Schiemer
Ulrich Schwarz
Sophie Tod

Beschreibung

Der mainstream der wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung zur europäischen Agrarentwicklung im 20. Jahrhundert legte sein Augenmerk auf die naturalen und sozialen Strukturen von Agrarsystemen: Boden-, Klima- und Reliefbedingungen, Faktor- und Produktpreise, agrarpolitische Eingriffe und so fort. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive erschein daran problematisch, dass "Agrarstrukturen" oft einseitig als strukturierendes Moment von Agrarsystemen begriffen werden; die andere Seite, das über die alltägliche Praxis von Akteuren strukturierte Moment, gerät dabei aus dem Blickfeld. Das Projekt Landwirtschaftsstile in Österreich unternimmt einen Perspektivenwechsel, indem es von der Außen- zur Innenseite der "Agrarstrukturen" - zur strukturierten und strukturierenden Praxis ländlicher Akteure - schwenkt. Agrarsysteme und ihre Akteure gelten dabei nicht als Gegensätze, sondern als einander ergänzende Ansichten ein und desselben Gegenstandes unter verschiedenen Blickwinkeln. In Abwandlung eines bekannten Diktums des "Alltagsgeschichte" ließe sich sagen: Die Akteure machen ihre Agrarsysteme nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.

Zur Umsetzung dieser akteurszentrierten Perspektive eignet sich das vom niederländischen Agrarsoziologen Jan Douwe van der Ploeg entwickelte Konzept der Landwirtschaftsstile (farming styles), das materielle, soziale und symbolische Dimensionen der ländlichen Gesellschaft - 'Dinge', 'Menschen' und 'Ideen' - in kohärenter Weise zueinander in Beziehung setzt:

  • Landwirtschaftsstile als symbolische Konstruktionen in Form medialer sowie kollektiv und individuell angeeigneter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata (Beziehung 'Menschen' - 'Ideen');
  • Landwirtschaftsstile als soziale Konstruktionen in Form verhandelter Strategien und Taktiken unterschiedlich mächtiger Akteure im Spannungsfeld von ländlichen Lebenswelten sowie ökologischen und politisch-ökonomischen Systemen (Beziehung 'Menschen' - 'Menschen');
  • Landwirtschaftsstile als materielle Konstruktionen in Form des Einsatzes landwirtschaftlicher Ressourcen durch Arbeit (Beziehung 'Menschen' - 'Dinge').


Landwirtschaftsstile werden in den internationalen Rural Studies meist aus gegenwartsnaher Perspektive beforscht; diese Studien zeigen, auf welch unterschiedliche Art und Weise - je nach Stilrichtung ("Maschinenmänner", "Rinderzüchter", "wirtschaftliche Bauern" usw.) - sich die Akteure die ökologischen und politisch-ökonomischen Strukturen praktisch aneignen. Das vorliegende Projekt betrachtet Landwirtschaftsstile aus einem historischen Blickwinkel. Projektziel ist, den Übergang von vergleichsweise extensiven, diversifizierten und regionalisierten Agrarsystemen in den 1930er Jahren zu intensivierten, spezialisierten und überregional verflochtenen („produktivistischen“) Agrarsystemen bis zu den 1970er Jahren aus akteurszentrierter Perspektive zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Um die Vielfalt von Landwirtschaftsstilen zu erfassen, werden zwei natur- und verkehrsräumlich unterschiedlich gelegene Regionen – die ehemaligen niederösterreichischen Bauernkammerbezirke Mank und Mödling – zwischen 1930er und 1980er Jahren vergleichend betrachtet. Aus dem Betriebsvergleich sollen überregional gültige Erkenntnisse gewonnen werden

Das Projekt umfasst drei Module:

  • Modul 1 beforscht Landwirtschaftsstile als mediale Entwürfe von 'Bäuerlichkeit' auf der Basis von Diskursanalysen zeitgenössischer Agrarzeitschriften.
  • Modul 2 untersucht Landwirtschaftsstile als betriebliche Agrarsysteme durch statistische Analysen von Hof- und Betriebskarten von etwa 1000 Betriebseinheiten;
  • Modul 3 erkundet Landwirtschaftsstile als das Mit-, Neben- und Gegeneinander der Strategien von Angehörigen bäuerlicher Haushalte mittels Fallanalysen lebensgeschichtlicher Mehrgenerationen-Interviews in etwa 10 Haushalten.


Die akteurszentrierte Beforschung der Agrarentwicklung im 20. Jahrhundert vermag - über das Wissenschaftsfeld hinaus - in dreifacher Hinsicht zur gesellschaftlichen Debatte um "ländliche Entwicklung" beizutragen:

  • Sie lässt die Verquickung materieller, sozialer und symbolischer Aspekte der "ländlichen Entwicklung" im Detail nachvollziehen - und stellt auf infrastrukturelle Maßnahmen beschränkte Projekte in Frage.
  • Sie erhellt den Einfluss ländlicher Entwicklungspfade in der Vergangenheit auf gegenwärtige, im Hinblick auf die Zukunft getroffene Entscheidungen - und lässt Planungen ohne historische Einbettung als kurzsichtig erscheinen.
  • Sie begreift die auf dem Land arbeitenden und lebenden Menschen als denk- und handlungsmächtige Akteure - und reduziert sie nicht zu "Betroffenen" von hinter ihrem Rücken getroffenen Entscheidungen.

 

Projektpräsentationen

  • Präsentation des Projektkonzepts beim WISO-Institutskolloquium an der Universität Wien (April 2009)
  • Präsentation von Projektkonzept und Pilotstudie beim Kulturgeschichtetag 2009 in Linz (September 2009)
  • Präsentation des Projektkonzepts und der Pilotstudie beim Herausgeber-Workshop der Zeitschrift Historische Anthropologie in Retz (Mai 2010)
  • Präsentation der Projektzwischenergebnisse auf der Konferenz Rural History 2010 in Brighton/GB (September 2010)
  • Mid-Term Workshop mit Jan Douwe van der Ploeg sowie weiteren in- und ausländischen ExpertInnen in Melk (Oktober 2010)
  • Projektpräsentation beim WISO-Institutskolloquium an der Universität Wien (Jänner 2012)
  • Präsentation der Endergebnisse auf der European Social Science History Conference in Glasgow (April 2012)
  • Präsentation der Endergebnisse beim Kulturgeschichtetag 2012 in Innsbruck (Juni 2012)
  • Präsentation von Projektergebnissen beim Österreichischen Historikertag 2012 in Krems (September 2012)
  • Präsentation von Projektergebnissen bei der Tagung Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert in Münster (Oktober 2012)

 

 

Projektpublikationen

  • Rita Garstenauer / Ernst Langthaler / Sophie Kickinger / Ulrich Schwarz, Landwirtschaftsstile: Theorie, Methoden, Quellen, in: Zoll+. Österreichische Schriftenreihe für Landschaft und Freiraum 19 (2009) 14, 75-80
  • Rita Garstenauer / Ernst Langthaler / Sophie Kickinger / Ulrich Schwarz, Landwirtschaftsstile in Niederösterreich zwischen 1940er und 1980er Jahren – Ein Forschungsprojekt, in: Österreich in Geschichte und Literatur 54 (2010), Themenheft "Agrargeschichte“, 86-99.
  • Ulrich Schwarz / Ernst Langthaler, Moderatoren des Wandels. Diskursanalyse der Wende zum Produktivismus nach 1945 am Beispiel des „Österreichischen Bauernbündlers“, in: Landwirtschaft 2012. Der Kritische Agrarbericht, Hamm 2012, 134-138. (310 KB)
  • Ernst Langthaler, Balancing Between Autonomy and Dependence. Family Farming and Agrarian Change in Lower Austria, 1945–1980, in: Günter Bischof / Fritz Plasser / Eva Maltschnig (Hg.), Contemporary Austrian Studies 21 (2012), special issue: Austrian Lives, 385–404. (2940 KB)
  • Sophie Tod / Ernst Langthaler, Landwirtschaftsstile und Kulturlandschaften, in: Zoll+. Österreichische Schriftenreihe für Landschaft und Freiraum 21 (2012).
  • Ulrich Schwarz, Bild(er) des Bauern in der österreichischen Agrarpresse. Der Bauer als Objekt von Diskursen in Publikationen des Niederösterreichischen Bauernbundes von der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre, in: Daniela Münkel / Frank Uekötter (Hg.), Das Bild des Bauern. Selbst- und Fremdwahrnehmungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2012, 201–228.
  • Ernst Langthaler,Wirtschaften mit Stil. Historisch-anthropologische Perspektiven zum Agrarstrukturwandel als Praxis, in: Historische Anthropologie 20 (2012) H. 3, 276-296. (447 KB)
  • Ulrich Schwarz, Politisieren, Vermarkten, Anpassen. Formationen des Agrarmediendiskurses im Österreichischen Bauernbündler 1950–1981, in: Historische Anthropologie 20 (2012) H. 3, 297-345. (1085 KB)
  • Ernst Langthaler / Sophie Tod / Rita Garstenauer, Wachsen, Weichen, Weitermachen. Familienbetriebliche Agrarsysteme in zwei Regionen Niederösterreichs 1945–1985, in: Historische Anthropologie 20 (2012) H. 3, 346-382. (940 KB)
  • Rita Garstenauer / Ulrich Schwarz / Sophie Tod, Alles unter einen Hut bringen. Bäuerliche Wirtschaftsstile in zwei Regionen Niederösterreichs 1945–1985, in: Historische Anthropologie 20 (2012) H. 3, 383-426. (1271 KB)
  • Ernst Langthaler / Ulrich SchwarzVom Gegenpol zum Maßstab. Stadt-Land-Beziehungen in Agrarmediendiskurs und bäuerlicher Wirtschaftspraxis in Niederösterreich 1945-1985, in: Franz-Werner Kersting / Clemens Zimmermann (Hg.), Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert, Paderborn 2015, 257-288. (2015 KB)