Reinhard Bodner: Der „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) in Österreich – Perspektiven und Zugänge einer wissensanthropologischen Wissenschaftsgeschichte

Rural History Forum 90 in Kooperation mit dem first-Forschungsverbund "Regionalitäten"

  • Was Termin
  • Wann 08.04.2024 von 13:00 bis 14:30 (Europe/Vienna / UTC200)
  • Wo St. Pölten, NÖ Landesarchiv, Seminarraum Erdgeschoß (Foyer)
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Rural History Forum

Vor dem Hintergrund neu gezogener staatlicher Grenzen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg kam „volkskundlichen Karten“ als Mittel nationaler Selbstvergewisserung eine gesteigerte Bedeutung zu. Als „erster ethnologischer Nationalatlas Europas“ (Ingrid Kretschmer), dem weitere folgten, wurde 1928 der „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) ins Leben gerufen. Er war das umfangreichste geisteswissenschaftliche Langzeitprojekt, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – bzw. ihre Vorgängerinstitution, die 1920 bis 1929 bestehende Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (NDW) – im 20. Jahrhundert anstieß, finanzierte und lange Zeit auch trug. Die Arbeiten daran liefen (wenn auch mit Unterbrechungen) von 1928 bis 1984. Ziel war es, mit Hilfe von Fragebögen Erscheinungen einer als „volkstümlich“ eingestuften Kultur zu dokumentieren und deren räumliche Verbreitung in Karten darzustellen. Während der ADV sich nach 1945 durch Kooperationen mit verwandten europäischen Projekten „entnationalisierte“, sollte er in seinen Anfängen ein „Inventarbuch der deutschen Volkskultur“ (Michael Simon) sein. Kultur- und Sprachgrenzen wurden dabei als deckungsgleich angesehen, gleichzeitig wollte man aber auch Kulturbewegungen“ erfragen und kartografisch fixieren. Dabei machte das Unternehmen nicht an den staatlichen Grenzen Deutschlands halt, sondern griff auf „grenz- und auslandsdeutsche Gebiete“ aus. Während zur Wissenschafts- und Institutionengeschichte und zum Quellenwert des ADV eingehend und differenziert geforscht wurde, ist zur Ausdehnung des Unternehmens auf Österreich ab April 1929 noch relativ wenig bekannt.

Das Referat stellt Ergebnisse diesbezüglicher Recherchen vor, die dank einer Anschubfinanzierung im Forschungsverbund „Regionalitäten“ des Forschungsnetzwerkes „Interdisziplinäre Regionalstudien“ (first) von Oktober bis Dezember 2023 durchgeführt wurden. Eingegangen wird auf die Gründungsversammlung des ADV in Österreich am 26. und 27. April 1929 an der Universität Wien, auf die Organisationsstruktur des ADV in Österreich unter der Leitung der Wiener Akademie der Wissenschaften und der Geschäftsführung des Historikers Adolf Helbok (1883–1968), auf die acht Landesstellen des ADV in Österreich und deren (potentiell) erhalten gebliebene Überlieferungen sowie die Bestände des Österreich-Zentralarchivs für den ADV an der Universität Innsbruck. Das Beziehungsgeflecht zwischen lokalen Fragebögen-Beantworter:innen, Landesstellen und den beiden Zentralstellen in Innsbruck und Berlin (später Frankfurt am Main, nach 1945 Bonn) wird unter dem Aspekt der Herstellung und Relativierung von „Regionalitäten“ in den Blick genommen. Auf der Grundlage dieser ersten Forschungen werden Perspektiven und Zugänge einer auf „volkskundliches Wissen“ fokussierten Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte des ADV in Österreich skizziert und zur Diskussion gestellt.

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Reinhard Bodner ist Europäischer Ethnologie/Kulturwissenschaftler und assoziierter Wissenschaftler am Institut für Geschichte des ländlichen Raumes (IGLR) in St. Pölten.